Lesestoff

Das verborgene Leben der Farben
und eine mutige Selbsterfindung

Ein Pfirsichgelb kurz vor der Reife oder Mitternachtsschwarz mit einem Hauch von Mond: Eine junge Frau benennt Farben anders als üblich und entdeckt dabei ihr verborgenes Leben.

In einer nicht näher bestimmten Zeit dieser Geschichte, an zwei verschiedenen Orten in Japan, fertigen zwei Kinder von vier und sechs Jahren eine Zeichnung an. Mio, das kleine Mädchen, liegt bäuchlings auf dem Boden und zeichnet ein Blatt. Mit den Fingerkuppen tupft es viele verschiedene Grüntöne auf. Aoi, der Junge, sitzt aufrecht am Wohnzimmertisch und zeichnet einen Baum. Die Rinde ist grün und die Krone rosarot. Später, in ihrem Erwachsenenleben, werden die beiden sehr unterschiedlichen Berufen nachgehen: Mio wächst in einem Atelier auf, in dem ihre Familie kostbare Hochzeitskimonos aus vielen Farben näht und mit alten Symbolen bestickt. Farben sind ihr Schlüssel zur Welt. Sie benennt sie anders als üblich und entdeckt dabei ihr verborgenes Leben. Aoi wiederum begleitet Beerdigungszeremonien. Er bereitet diejenigen vor, die von der Welt gehen und kümmert sich um jene, die bleiben. Er besitzt die seltene Sensibilität, sein Gegenüber auf den ersten Blick zu verstehen. Als sich die Wege von Mio und Aoi kreuzen, scheinen sich die beiden perfekt zu ergänzen: wie Sonne und Mond, Yin und Yang oder zwei Komplementärfarben …

Ein großstädtisches Märchen aus Tokio, einer zukunftsgewandten Stadt, in der immer noch die Rituale einer tausendjährigen Kultur gelebt werden. Zärtlich, eigenwillig, feinsinnig, zauberhaft wird hier von der Magie des Alltäglichen erzählt.

Das verborgene Leben der Farben. Von Laura Imai Messina
Im btb Verlag um 22,70 Euro

Als ich mit Pinsel und Farbe umzugehen lernte, wurde ich erst ein richtiger Mensch. Das außergewöhnliche Leben von Maria Lassnig – eine Biographie von Natalie Lettner.

Maria Lassnig ist eine meiner großen Heldinnen, weil mich so viel an ihrem außergewöhnlichen Leben beeindruckt. Da ist einmal die Erfindung ihres Selbst: Maria Lassnig kommt aus einfachen Verhältnissen und machte sich zu einer der bedeutendsten Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts – trotz äußerer Widerstände und vieler Rückschläge, mit Mut und Konsequenz. Ein Leben lang wird sie sich als Künstlerin und Mensch in ihren Bildern erforschen und neu erfinden. Maria Lassnig verfügte außerdem über ein absolutes Farbsehen und bezeichnete ihre Auseinandersetzung mit Farbe als ihr erstes wirkliches intellektuelles Erlebnis. Sie lebte mit einer speziellen Form von Hochsensitivität, die dazu führte, dass sie ihre Motive nicht nur mit den Augen, sondern mit dem ganzen Körper erfasste. Ihre Körperwahrnehmungen brachte sie frei von Tabus auf die Leinwand. Am meisten beeindruckt mich aber, dass sich Maria Lassnig immer für die Kunst entscheidet. So oft Männer sie heiraten wollen, so oft schlägt sie das Angebot aus, obwohl sie tief liebt und häufig einsam ist. Doch das Wichtigste in ihrem Leben bleibt die Kunst. Mit ihren Worten: „Es ist mein einziger Lebenszweck und mein einziger Wunsch, gut malen zu können.”

Ich hatte das große Glück, Maria Lassnig persönlich kennenzulernen. Nie davor und nie danach habe ich bei jemandem eine so starke Autarkie erlebt. Das Buch ist die ultimative Einführung in ihr Leben und Schaffen – und ein Kaleidoskop der Malerei des 20. Jahrhunderts. Es ist chronologisch erzählt und hat zugegebener Weise auch Längen. Ich lese es mit zeitlichem Abstand kapitelweise. So wirkt das außergewöhnliche Leben von Maria Lassnig mit den vielen spannenden Entwicklungen außerdem intensiver in mir nach. Empfehlenswert!

Maria Lassnig – Die Biographie. Von Natalie Lettner
Im Brandstätter Verlag um 45,95 Euro

Das verborgene Leben der Farben und eine mutige Selbsterfindung
Zwei Bücher, in denen sich alles um Körperwahrnehmung, Farbe und Selbsterforschung dreht: „Maria Lassnig – Die Biographie“ von Natalie Lettner und „Das verborgenen Leben der Farben“ von Laura Imai Messina