Um weiterzuleben, dürfen wir nicht an die schlechten Dinge denken. Nur die Liebe müssen wir im Sinn behalten. Dieser Satz aus dem autobiographischen Essay von Nastassja Martin beschreibt das Unfassbare, das der Anthropologin widerfuhr: Auf einer Forschungsreise in Russland wird sie von einem Bären angefallen. Dieser Satz passt aber auch zu dieser Zeit, in der Russland unfassbare Dinge geschehen lässt.
Im Mittelpunkt des Sachbuchs steht jedoch der wissenschaftliche Forschungszweig der französischen Anthropologin: der Animismus. Als ich das erste Mal auf dieses Buch stieß, war sofort klar, dass ich es lesen muss. Denn ich habe seit Studienzeiten und den religionsphilosophischen Vorlesungen, die ich aus Interesse besuchte, selbst ein animistisches Weltbild. Vereinfacht dargestellt, besagt es, dass alle Wesen der Natur beseelt sind. Und dass sich ihre Seelen miteinander vermischen können.
Ich werde vor dem Geist des Bären gewarnt,
der mir folgt, der auf mich wartet, der mich kennt.
Die Anthropologin Nastassja Martin forscht seit Jahren zum Animismus. Dafür lebte sie unter anderem monatelang auf der russischen Halbinsel Kamtschatka – einer kargen, aber charismatischen, von Vulkanen durchzogenen Landschaft. Dort studierte sie das Leben der Ewenen, einer indigenen Ethnie. Nastassja Martin wohnt bei einer Familie, lernt ihr Alltagsleben und ihre Bräuche kennen, bald taucht sie tief in die animistische Kosmologie der Ewenen ein. Und bald beginnt sie von einem Bären zu träumen... Bei einer Bergtour begegnet Nastassja Martin ihm dann tatsächlich. Der Bär greift sie an, beißt sie in den Kopf, ihr Gesicht und ein Bein. Die Anthropologin überlebt zwar den Kampf und kann nach ärztlichen Behandlungen in Russland und Frankreich körperlich weitgehend heilen. Doch sie gerät in den Zustand versehrter Identität. Denn nach dem Glauben der Ewenen ist sie nach dieser Begegnung „miedka“ – halb Mensch, halb Bärin. Hat sie tatsächlich Seelenanteile des Bären aufgenommen? Ist ein Teil ihrer Seele mit dem Bären mitgegangen? Wo verlaufen die Grenzen zwischen Raubtier und Mensch? Und vor allem: Wie kann sie innerlich heilen?
Ich sage nichts. Ich atme tief durch.
Ja. Ich habe dem Bären vergeben.
Die persönliche Geschichte von Nastassja Martin – erzählt in einer kristallklaren und rationalen Sprache – packte mich von der ersten Zeile an: Wie unglaublich, wie aufwühlend, wie mutig sie ist. Vielleicht sogar ein wenig verrückt. Auf jeden Fall erweitern ihre erfrischend anderen Zugänge die Grenzen menschlicher Wahrnehmung und machen interessante Nischen auf. Außerdem stellt sie viele richtige Fragen: Haben Raubtiere das Recht, ihren Lebensraum zu verteidigen? Welchen Platz steht dem Menschen in der Wildnis zu? Und was zählt wirklich, beim Versuch, ein Mensch zu sein? Übrigens: Der Essay zeigt mit dem Leben auf der Halbinsel Kamtschatka – nahe Japan – ein unbekanntes und gänzlich anderes Bild von Russland...
Im Matthes & Seitz Verlag um € 18,50