Die Zimmerreise ist eine literarische Gattung – und eine schöne Möglichkeit, die eigenen vier Wände besser kennenzulernen. In der linken Ecke meines Arbeitszimmers liegt dieser Feuerstein, der die Geschichte der berühmten Kreidefelsen einmal anders erzählt.
Der Feuerstein ist ein wenig größer als meine Hand und sieht beinahe so aus. Aus einem flachen Steinrücken wachsen mehrere fingerähnliche Auswölbungen. Dort, wo bei einer Hand der Daumen sitzt, hat der Feuerstein ein rundes Loch, in das – wundersame Fügung – genau mein Daumen passt, wie dafür gemacht. Das wusste ich aber noch nicht, als ich den Feuerstein an einem Strand auf der Insel Rügen liegen sah.
Dort waren wir unterwegs, weil ich die berühmten Kreidefelsen besuchen wollte – von Caspar David Friedrich auf seinem Gemälde verewigt. Die ganze Wanderung über hatte ich einen Krampf im Bein, das Wetter war schwül und von den Kreidefelsen war nichts zu sehen, wir gingen ja auf ihnen! Endlich ein steiler Pfad nach unten, eine kühle Brise, die Ostsee und ein vorbeituckerndes Schiff mit fröhlich lachenden asiatischen Touristen. Sie hatten natürlich beste Aussicht auf die Kreidefelsen.
Da fiel mein Blick auf diesen Feuerstein: Ich hob ihn auf, war überrascht, wie samtig weich sich seine Oberfläche anfühlte und wie angenehm leicht er trotz der Schwere in meiner Hand lag. Dass ich ihn mitnahm, war vom ersten Moment an klar. Hinein in den Rucksack, zurück auf die Klippen, ja, ja, da vorne, da kämen sie, die Wissower Klinken, versicherten uns andere Wanderer. Die Hinweisschilder mehrten sich, nun waren wir da, nur die berühmten Kreidefelsen, die nicht. Sie waren zwei Wochen davor in die Ostsee abgestürzt.
Geblieben ist mir von dieser Reise der Feuerstein. Angeblich hält er Unheil fern, weshalb ich ihn schon seit fünfzehn Jahren von einer Wohnung in die andere schleppe und immer in Tür- oder Fensternähe platziere. Dort kann er seine Wächterfunktion am besten ausüben.
Übrigens: Nach neuesten Forschungen waren es gar nicht die Wissower Klinken, sondern die Kleine Stubbenkammer ist das Vorbild für das Gemälde „Kreidefelsen auf Rügen“ von Caspar David Friedrich.