Lesestoff

Karen Duve. Fräulein Nettes kurzer Sommer

Sommer 1820: Eine junge Adelige, die sich nicht anpassen will. Ein armer Poet, der für den neuen Goethe gehalten wird. Und eine heillose Verstrickung ihrer Gefühle.

Jacob und Wilhelm Grimm sammeln gemütlich ihre Märchen und sehnen sich wie viele ihrer Künstlerfreunde nach dem guten alten Deutschland, während die gute alte Ordnung um sie herum zerfällt. Annette von Droste-Hülshoff – Nichte ihres Gastgebers August und selbst künstlerisch begabt – jammert nicht, sondern beobachtet alle Veränderungen und kommentiert sie klug und scharfsinnig. Trotzdem oder gerade deshalb schenkt man ihr nur ungern Gehör. Was aber auch daran liegt, dass Fräulein Nette, wie sie genannt wird, eine ziemliche Nervensäge ist.


„Das geht überhaupt nicht!
Willst du uns vor allen blamieren?“


Da hilft es nichts, dass sie aus herrschaftlicher Familie stammt und ungewöhnliche, ja, ungewöhnlich gute Gedichte schreibt. Im Gegenteil: Von jungen Adeligen wie ihr erwartet man ganz Anderes: nette Tischdecken sticken zum Beispiel, nett kichern und vor allem nett den Mund halten, wenn die Herren der Schöpfung über Gott und die Welt und die Zukunft diskutieren. Das alles schafft Fräulein Nette nicht – im Gegenteil. Sie ist das schwarze Schäfchen in ihrer adeligen Familie und verhält sich höchst unangepasst: an Mineralien interessiert, hat sie deshalb stets einen Berghammer am Gürtel, mit dem sie in Höhlen stöbern kann und fast immer haftet Schmutz ihren Röcken an. Wie schockierend! Fräulein Nette jedoch kümmert das alles nicht, sondern gibt sich – ungehemmt – ihren Launen und ihrer scharfen Zunge hin, die sogar die Brüder Grimm fürchten. Vor allem der schüchterne Wilhelm, den sie kurzerhand „Unwill“ tauft, gerät in Panik, wenn er Fräulein Nette auch nur sieht.


„Annette! Ich muss doch sehr bitten!“


Das wiederum missfällt ihrem Onkel August, der seine hochverehrten Künstlerfreunde gerne auf den Stammsitz der Familie einlädt, um mit ihnen zu zechen, jagen und zu diskutieren. Oft genug verbietet er Fräulein Nette den Mund – was nicht lange gelingt, denn irgendwie schafft sie es immer, sich in die Männergespräche einzumischen. Und so rollen die adeligen Möchtegernkünstler die Augen, wenn sie wieder eine feurige Rede hält. Nur einer nicht: Heinrich Straube, den man für den neuen Goethe hält, ist von der Nichte seines besten Freundes August fasziniert und spinnt heimlich einen Plan: Wenn er der neue Goethe wird, dann braucht er in seinem Salon eine kluge Frau mit Verve. Was Straube zu wenig bedenkt, ist er selbst: Denn von einfachem Stand, bettelarm und noch dazu unattraktiv, ist er nicht das, was sich adelige Väter für ihre jungen Töchter erwarten – auch wenn diese noch so unangepasst sind. Straube wagt trotzdem sein Glück, pirscht sich an Fräulein Nette an und merkt bald: Sie erwidert seine Gefühle!


„Schwöre, dass du niemandem etwas sagst!“


Doch Fräulein Nette ist nicht nur offen für ihn, sondern für alle möglichen Abenteuer und zu mutig für ihre Zeit. Ihre Familie und ihr Freundeskreis sind ob der ungewöhnlichen Verbindung außerdem verstört: Was will eine junge Adelige mit einem armen Poeten? Und was will der neue Goethe mit einer so frechen Frau? Da muss eingegriffen werden! Eine Familienintrige entspinnt sich und Fräulein Nette muss bald bemerken, dass sich die gesellige Künstleridylle um sie herum als trügerisch erweist…

Gnadenlos und grandios erzählt Karen Duve mit schwarzem Humor und historisch genau recherchierten Fakten vom ungewöhnlichen Liebesleben in einem kurzen Sommer der Dichterin Annette Droste-Hülshoff.

Im Galiani Verlag um 25,70 Euro
Gleich bestellen? www.morawa.at oder www.buechersegler.at

Die Glocke im See
Das ungewöhnliche Leben der Dichterin Annette von Droste-Hülshoff: historisch genau recherchiert und mit viel schwarzem Humor